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AutorenbildDharma-Lichtung

"Vom Geist geführt die Dinge sind"


Nach der buddhistischen Weltauffassung sind unser gesamtes Leben und die ganze Welt, so wie wir sie kennen, in Wirklichkeit ein Produkt des Geistes. Dieses Verständnis von dem Verhältnis zwischen dem Geist und der Welt wird besonders deutlich in einem Zitat aus dem Dhammapada*, einer Ansammlung von 423 Versen, welche der Buddha bei 305 Gelegenheiten lehrte. Wir betrachten hier die ersten beiden Verse:



"1. Vom Geist geführt die Dinge sind,

Vom Geist beherrscht, vom Geist gezeugt.

Wenn man verderbten Geistes spricht,

Verderbten Geistes Werke wirkt,

Dann folget einem Leiden nach,

Gleichwie das Rad des Zugtiers Fuß.






2. Vom Geist geführt die Dinge sind,

Vom Geist beherrscht, vom Geist gezeugt.

Wenn man da lautern Geistes spricht

Und lautern Geistes Werke wirkt,

Dann folget einem Freude nach,

Gleichwie der Schatten, der nie weicht."






In den ersten beiden Zeilen wird deutlich, dass der Geist der Urheber aller Dinge ist. Um dies zu verstehen, müssen wir uns zunächst vergegenwärtigen, dass die Welt laut Buddhas Lehre keine eigenständige, unabhängige Existenz besitzt. Die Welt ist keine objektive Realität, die der Geist oder das Bewusstsein wahrnimmt, sondern es verhält sich genau umgekehrt: Das reine, formlose Bewusstsein ist die Grundlage allen Seins, und die verschiedenen Formen bilden sich erst durch die Aktivitäten des denkenden Geistes. Die Welt ist also weniger eine objektive Wirklichkeit, sondern vielmehr eine Vorstellung, die durch den Geist erzeugt wird.


Zum besseren Verständnis können wir einen Fernseher betrachten, auf dem ein Film abgespielt wird. Der Bildschirm des Fernsehers, in unserer Analogie das Bewusstsein, ist immer da, unabhängig davon, ob gerade ein Film gespielt wird oder nicht. Auch hat der Bildschirm zunächst nichts mit dem Inhalt des Films zu tun. Ob der Film nun lustig, traurig, ruhig oder turbulent ist - der Bildschirm bleibt immer die Gleiche. Sogar wenn der Fernseher abgeschaltet wird, ist der Bildschirm immer noch da. Der Inhalt des Films wird auch nicht von dem Bildschirm selbst erzeugt, sondern von dem Zusammenspiel aus Daten, die Menschen sich ausgedacht haben und z. B. auf einer Videokassette gespeichert haben oder einer Fernsehanstalt zur Verfügung gestellt haben, die diese Daten nun an unser Fernsehgerät überträgt. Für den Film braucht es also Daten und ein funktionierendes Fernsehgerät, das diese Daten weiter verarbeiten kann und auf dem Bildschirm wiedergeben kann. In unserer Analogie ist das Fernsehgerät der denkende Geist, der Bildschirm ist das Bewusstsein und der Film ist das Leben oder die Welt, so wie wir sie in diesem Moment erleben. Hier wird schnell deutlich, dass der Film - also das Leben - ziemlich variabel ist und keine eigenständige Wirklichkeit darstellt. Das Leben ist vielmehr eine Produktion des denkenden Geistes (des Fernsehgeräts). Tatsächlich ist es noch nicht einmal wirklich der denkende Geist selbst, der den Inhalt des Films bestimmt, sondern er bedient sich dabei aller möglicher Sinneseindrücke, die er aus seiner Umgebung mitbekommen hat und die seine Art zu denken geprägt haben - genauso wie das Fernsehgerät den Film nicht aus sich selbst heraus erzeugt und damit selbst den Inhalt des Films bestimmt, sondern auf Daten zurückgreift, die ihm von außen (durch die Videokassette oder die Fernsehanstalt) mitgeteilt wurden.


Letzten Endes ist aber der denkende Geist genau die Schnittstelle, an der wir den ganzen Prozess der Filmentstehung selbst in die Hand nehmen können. Sobald wir uns nämlich all der Daten (auf der Videokassette) bewusst werden, die wir von außen mitbekommen haben, können wir auch wählen, stattdessen unsere eigenen Daten (eigene Gedanken) zu produzieren oder unter den von außen angebotenen Daten nur noch diejenigen auszuwählen, die uns für ein glückliches, friedliches und sinnerfülltes Leben zuträglich erscheinen. Um zu diesem Grad an Bewusstheit zu gelangen, brauchen wir die Meditationspraxis, also die Kultivierung von Gewahrsein im gegenwärtigen Moment.


Aus den Gedanken entstehen aber nicht nur unsere Vorstellungen von der Welt und damit die Welt selbst, sondern auch unsere Worte und Handlungen. Jedem unserer Worte und jeder unserer Handlungen gehen ein oder mehrere Gedanken voraus. Daher ist der Geist auch die Quelle all dessen, was wir tun - und mit unserem Tun erschaffen wir wiederum die Welt, auch in einem ganz pragmatischen Sinne, denn unsere Handlungen haben zweifellos einen Einfluss auf die Welt. Dies führt uns unmittelbar zu dem Konzept von Karma. Das Karma beschreibt im Buddhismus die Summe all unserer Handlungen in Körper, Rede und Geist (Handlungen des Körpers, Worte und Gedanken). Die Gedanken werden ebenfalls zu den Handlungen gezählt, weil sie als eine Art Samen gesehen werden, die - einmal in den Boden des Geistes gesät - eines Tages, wenn die Umstände passend sind, zu Früchten in Form von Worten und körperlichen Handlungen werden. Jede Handlung hinterlässt eine Spur in unserem Bewusstsein und beeinflusst unsere Vorstellungen von uns selbst und von der Welt - und damit auch, wie der Geist unser Leben in der Zukunft erschaffen wird. Damit hängt unser zukünftiges Glück oder Leid eng von unserem heutigen Verhalten ab. Dies beschreibt der Buddha ganz deutlich in den beiden oben zitierten Versen.


"1. Vom Geist geführt die Dinge sind, Vom Geist beherrscht, vom Geist gezeugt." - hier spricht der Buddha vom Karma des Geistes und nimmt zugleich vorweg, dass letzten Endes alle Dinge auf ebendiese Handlungen des Geistes zurückzuführen sind. "Wenn man verderbten Geistes spricht," - hier geht es um das Karma der Rede, das vom Zustand des Geistes (hier eines "verderbten Geistes") herrührt, "Verderbten Geistes Werke wirkt," - das ebenfalls vom Geist herrührende Karma des Körpers, "Dann folget einem Leiden nach, Gleichwie das Rad des Zugtiers Fuß." - und schließlich kommt der Buddha auf die Folgen all dieser Handlungen zu sprechen, in diesem Fall das Leiden, das aus diesen vom verderbten Geist herrührenden Handlungen entsteht.


Der zweite Vers ist ähnlich aufgebaut wie der erste, mit dem Unterschied, dass hier die positiven Effekte und die Freude beschrieben werden, die aus unseren Handlungen resultieren, wenn diese Handlungen lautern Geistes entspringen. "2. Vom Geist geführt die Dinge sind, Vom Geist beherrscht, vom Geist gezeugt. Wenn man da lautern Geistes spricht" - hier geht es wieder zunächst um das Karma des Geistes, dann um das Karma der Rede, "Und lautern Geistes Werke wirkt," - und dann um das Karma des Körpers, "Dann folget einem Freude nach, Gleichwie der Schatten, der nie weicht." - und schließlich um die Freude, die jemand empfindet, der Gutes getan hat. An den beiden Bildern des Wagenrades, das unmittelbar der Bewegungsrichtung des gehenden Zugtiers folgt ("Gleichwie das Rad des Zugtiers Fuß") sowie des Schattens, der einem Menschen oder Gegenstand überall hin folgt ("Gleichwie der Schatten, der nie weicht"), erkennen wir, dass das Karma im Buddhismus als eine Art Naturgesetz verstanden wird. Das Karma ist also nicht dazu da, Menschen für ihr Verhalten zu bestrafen oder zu belohnen, sondern es ist der natürliche Verlauf der Dinge.


Zusammenfassend können wir sagen, dass aus den Gedanken all unsere Vorstellungen vom Leben und von der Welt entstehen und dass diese Vorstellungen in Wirklichkeit zugleich die Welt sind. Es gibt keine unabhängige Existenz einer "Realität". Vielmehr ist der denkende Geist der Schöpfer dieser Welt, zum einen durch seine Vorstellungen und zum anderen durch seine Handlungen, die wiederum die Entwicklung der Welt beeinflussen.




Von Schwester Tinh Hanh




*Dhammapada : wörtliche metrische Übersetzung der ältesten buddhistischen Spruchsammlung ; [Worte des Buddha] / Nyanatiloka Mahathera (Übers.) - 1. Aufl. - Uttenbühl : Jhana-Verl., 1995

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